Novemberblues mit gutem Ausgang
Aufmerksam betrachten die vier Kinder das alte Rathaus; irgendetwas scheint sie zu irritieren an dem gotischen Gebäude, das eines der ältesten Rathäuser Mitteldeutschlands ist und in seinem Kern bis auf das 14. Jahrhundert zurückgeht. Dass mein fünf- bis neunjähriger Nachwuchs dies mit soviel Eifer tut, liegt allerdings nicht etwa daran, dass er sich in besonderem Maße für Architektur und Historie interessieren würde, sondern daran, dass mein kleiner Kunstgriff funktioniert hat: Am Vorabend unseres Quedlinburg-Besuches hatte ich mit den Kindern die Neuverfilmung vom „Kleinen Gespenst“ aus dem Jahr 2013 geschaut.
Das kleine weiße Wesen aus der Feder von Otfried Preußler spukt darin durch das Quedlinburger Rathaus und durch die Straßen und Gassen der Weltkulturerbestadt. Gedreht wurde im Rathaus, auf dem Marktplatz und im Schuhhof, sowie in Hölle, Pölle und Stieg. Ich hatte mir überlegt, dass sie mit anderen Augen durch eine der besterhaltenen Fachwerkstädte des Landes gehen würden, um Filmszenen wiederzuentdecken.
Und da stehen sie nun, ihr Blick wandert vom großen Holzportal zum goldenen Stadtwappen und noch höher. Ich hab’s“, ruft der Älteste, „der Turm fehlt!“ Und er hat Recht, denn der Turm, der im Film eine prominente Rolle spielt, wurde nachträglich reingeschnitten. Dass mein Griff in die Trickkiste aber im Grunde gar nicht nötig gewesen wäre, erfahren wir wenige Minuten später in der roten (!), offiziellen Touristen-Information. Dort gibt es nämlich neben den üblichen Info-Flyern und Stadtplänen eine Schatzkarte von Quedlinburg!
Der siebenjährige Theo liest: „Der erste Strich dieser Schatzkarte wurde vor über 1000 Jahren getan, als Heinrich der I, der erste König der Deutschen, hier seine Lieblingsburg erbauen ließ. Aus sterbender Hand erhielt seine Frau Mathilde diese Karte, die Burg und Ländereien zum Geschenk. Gegründet wurde eine bedeutende Kirchenschule für reiche Edeldamen. Diese Stiftsdamen bekamen vom König die Erlaubnis, Handel zu treiben und eigene Münzen zu prägen...“ Schon in diesen wenigen Sätzen erfahren die Kinder in einfachen Worten einiges über die Wiege Deutschlands und ihre politische, geistliche und kulturelle Geschichte.
Wer sich dann auf das Spiel einlässt und sich von den über die Schatzkarte verteilten Flaggen durch Quedlinburg führen lässt, weiß am Ende sogar eine ganze Menge über diese tausendjährige Stadt, die unglaublich lebendig ist: Wo der Schreckensturm zu finden ist zum Beispiel, und dass es aus seinen Mauern für Verbrecher, Lügner und Diebe kein Entrinnen gab; wo einst die erfolgreichen Handelsleute von Quedlinburg ihre Häuser gebaut haben und wie man die Waren damals in deren Dachspeicher brachte. Die Kinder werden zu einem der ältesten Häuser der Stadt geführt und lernen, wie die typische Ständerbauweise funktioniert. Natürlich geht es auch hinauf zur Stiftskirche und ihrem berühmten Schatz, zu dem Edelsteine, Gold und Perlen ebenso gehören wie kostbare Bücher, Kästchen und heilige Dinge.
Nach gut zwei Stunden haben wir Quedlinburg erkundet, die Szenen aus dem Film entdeckt und natürlich das Rätsel gelöst. Mit dem Lösungswort und stolz geschwellter Brust marschieren meine vier zurück zur Touristen-Info, um den versprochenen Finderlohn abzuholen. Sie erhalten einen tollen, stabil laminierten Schatzsucher-Ausweis mit echtem eigenem Fingerabdruck und einen Gutschein für ein Eis im benachbarten Café zum Roland – und sind damit nicht nur offiziell als geprüfte Schatzfinder ausgezeichnet, sondern ganz große Quedlinburg-Fans!
Das heißt unter anderem, dass wir wiederkommen! Um vielleicht mit der kleinen Bimmelbahn zu fahren, oder mal an einer nächtlichen Führung mit einem historischen Nachtwächter teilzunehmen. Vielleicht schaffen wir es schon in der Adventszeit – da verwandelt sich der Quedlinburger Marktplatz in ein weihnachtliches Wunderland.